Der Vortrag beschäftigt sich mit den Handlungsspielräumen des Reichsfinanzministeriums im „Dritten Reich“ und berichtet von den laufenden Forschungen aus der Gesamtstudie zur Geschichte der nationalsozialistischen Steuerpolitik zwischen 1933 und 1945. Im Rahmen dieser Studie werden steuerliche Maßnahmen zur Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung und die verteilungspolitischen Wirkungen der nationalsozialistischen Steuergesetze ebenso in den Blick
genommen wie die Bedeutung der Steuerpolitik als Teil der Kriegsfinanzierung.
Im Vortrag wird anhand von zwei Fallbeispielen gezeigt, dass das Finanzministerium bis zum Kriegsbeginn 1939 eine große Handlungsautonomie besaß, insbesondere in der konkreten Ausgestaltung steuerrechtlicher Details, aber auch hinsichtlich der Erhöhung einzelner Steuern. Dieser hohe Freiheitsgrad gründete zu einem erheblichen Teil auf einer Interessenkongruenz von Ministerium und Regimespitzen, da die erreichten Steuererhöhungen und die „Verreichlichung“ aller Steuern sowohl die Stellung des Ministeriums gegenüber den Ländern stärkten als auch die notwendigen Mehreinnahmen für die nationalsozialistische Aufrüstungspolitik bereitstellten.
Seine Handlungsspielräume sicherte das Reichsfinanzministerium zudem durch regelmäßiges Entgegenkommen gegenüber der NSDAP ab, z.B. durch umfangreiche Steuerbefreiungen der Partei. So verzichtete es nach einer Einigung mit dem Reichsschatzmeister Schwarz nicht nur auf Umsatzsteuern, sondern sogar auch auf sein Nachprüfungsrecht der Parteiangaben. Genauso großzügig verfuhren die Steuerabteilung und der hierfür verantwortliche Staatssekretär Fritz Reinhardt bei der Besteuerung der Regimespitzen, denen man im Gegensatz zum normalen Steuerzahler erhebliche Steuerstundungen oder Steuerbefreiungen auf üppigste Dienstaufwendungen gewährte.
Erst nachdem sich die Kriegsausgaben des Reiches ab 1941 stark erhöht hatten, zeigten sich größere Interessengegensätze zwischen dem Reichsfinanzministerium und des NS-Führung, die im Kriege selbst vergleichsweise moderaten Steuererhöhungen nicht oder nur für höheren Einkommensbezieher und Unternehmen zustimmten. Diese Ablehnung gründete dabei nicht allein auf einer sozialpolitisch motivieren Rücksichtnahme auf die Normalverdiener bzw. auf die Stimmungslage der Bevölkerung, sondern erklärt sich zugleich aus dem finanzpolitischen (Un-)Verständnis führender Nationalsozialisten wie Hitler, Goebbels oder Göring. Diese vertraten die Meinung, dass staatliche Finanzprobleme jederzeit machtpolitisch zu lösen seien und etwaige ökonomische Schwierigkeiten durch zwangswirtschaftliche Steuerung wie Preisstopps, Bewirtschaftungsmaßnahmen oder polizeilichem Terror unter Kontrolle gehalten werden könnten. Die unterschätzte Bedeutung einer solideren Steuerpolitik – für die neben Reinhardt auch der langjährige Minister Schwerin von Krosigk federführend verantwortlich war – engte seit 1939 die Autonomie des Finanzministeriums in der
Kriegsfinanzierung zunehmend ein, was entscheidend zum Staatsbankrott und zur Inflation Deutschlands beitrug.